20 Kilometer geht es in Amelands Osten mit dem Rad durch größtenteils unberührte Landschaft. Quasi im Vorbeiradeln gibt es Einblicke in die Welt der Vögel, die hier zu Tausenden rasten und brüten. Ein Riesenspektakel ist es, wenn sich die gefiederten Inselgäste im Watt bei Niedrigwasser auf ihre Nahrung stürzen. Hitcock lässt grüßen! Mit einem Abstecher zur restaurierten Entenkoje und dem benachbarten heimeligen Lokal beschließen wir den entspannten Ausflug.
Das Meer gibt und das Meer nimmt
Das kleine Dort Buren prägen zahleiche (ehemalige) Bauernhöfe – viele von ihnen sind heute Gruppenunterkünfte für Schulklassen, Sportgruppen, Pfadfinder und Junggesellenabschiede. Nur ein paar Schritte weiter, und es wird ruhig. Denn hinter dem zweitkleinsten Inseldorf erstreckt sich über eine Länge von elf Kilometern eine unberührte Landschaft, die nur mit dem fiets und zu Fuß zu erreichen ist: Het Oerd und De Hôn. Dort, wo sich der Burener Strandweg mit dem Radweg hinter der letzten Dünenreihe vor dem Meer kreuzt, biegen Lucia und ich nach rechts in den fietspad ein. Hier fährt auch der Strandexpres ab, der in der schönen Jahreszeit über den Strand bis Oerd und Hôn zuckelt.


Essen aus dem Meer
Schnell erreichen wir in beständigem Auf und Ab – der Wind ist auf Ameland nie ohne! – die Buurderduinen mit der 15 Meter hohen Düne Bureblinkert. Der Aussichtspunkt liegt an dem 1893 angelegten Sandfangdeich Kooioerdstuifdijk, der ›Festland‹-Ameland mit der damaligen Düneninsel Oerd verband und die Salzwiese Nieuwlandsreid entstehen ließ. Von hier oben ist der Blick auf das Meer und zur anderen Seite auf die Wellentäler der Dünen bezaubernd. Wer mag, kann das Rad auch stehen lassen, denn vom Bureblinkert führen verschiedene Wanderwege in die Umgebung. Oder auf einer der beiden Bänke ausruhen.
Machen wir nicht, wir wollen weiter nach Osten. Seit dem Bau des Sandfangdeichs, ein so schönes wie informatives Wort, ist das gut 1000 Hektar große Naturschutzgebiet vor der Nordsee geschützt, wird allerdings weiterhin regelmäßig vom Meer überflutet. In diesem ›Zwischengebiet‹ ist beispielsweise der Queller glücklich, eine leckere salzresistente Pflanze, die sich auf der Speisekarte vieler Restaurants, in Supermärkten und im Fischladen Metz in Hollum und Nes in der Auslage findet. Aber auch fleischfarbenes Knabenkraut und Strand-Tausendgüldenkraut mögen den Kooioerdstuifdijk.



Ein paar Priele schlängeln sich durch das Marschland, in dem die Vogelwelt reichlich Nahrung und Brutplätze findet. Bis zu 5000 Ringelgänse ruhen sich hier vor ihrem Flug in Richtung Norden aus, und auch eine Löfflerkolonie mit Tausenden von Vögeln mag das Gebiet. Bei Flut ruhen sie auf den Salzwiesen aus, bei Ebbe suchen sie im Watt nach Nahrung.
Blick zur Nachbarinsel
Der kurvige, schmale Weg führt zum jahrhundertealten Dünengebiet Het Oerd, das wie die im Osten angrenzende, sich ständig verändernde Sandebene De Hôn ein international bedeutendes Naturschtzgebiet ist. Vorher biegen unzählige schmale Wege nach links und zum Meer ab. Also runter vom fiets und ab in die Nordsee. Sehr erfrischend!




Ökosystem in Gefahr?
Schließlich endet der Radweg an der Schutzhütte zu Füßen des Oerdblinkert, der mit 24 Meter höchsten Düne Amelands. Sehr ungewöhnlich ist ihre Lage an der Watten- und nicht wie üblich an der Nordseeseite der Insel. Von der mit Fernrohren bestückten Aussichtsplattform bietet sich ein schöner Blick über das Watt, wo Kühe grasen, Dünenseen, die Nordsee und bei klarer Sicht bis zur Nachbarinsel Schiermonnikoog oder bis zum Festland. Seit auf der Düne ein ein Meter hoher Rahmen steht, das bekannte Logo von National Geographic, blickt man durch das markante Rechteck auf das UNESCO-Weltnaturerbe Wattenmeer.
Zur Nordseeseite hin bleibt der Blick an den beiden Bohrinseln hängen, die sich auch beim Baden im Meer immer wieder ins Auge schieben – ein ständiger politischer Zankapfel. Aus einer Tiefe von 3000 Metern wird Erdgas unter dem östlichen Inselteil gefördert. Naturschützer befürchten eine Absenkung des Bodenniveaus, wodurch das Ökosystem aus dem Gleichgewicht geriete.



Die Natur mag es bunt
Zusammen mit den feuchten Dünentälern sind die Oerderduinen und das noch weiter östlich liegende De Hôn beliebtes Brutgebiet. Bei Hochwasser suchen hier Tausende von Watvögeln Zuflucht. Das östliche Inselzipfelchen ist daher nur über den etwa vier Kilometer langen, mit Pfählen markierten Rundweg zugänglich (Ausgangspunkt: Plattform auf dem Oerdblinkert). An der Wattseite der Oerder Dünen wachsen Rosen- und Holundersträucher, und im Herbst setzt der Sanddorn knallorangene Farbakzente – wie am gesamten Wegesrand. Der Holunder widersetzt sich eifrigen Sammlern längst nicht so wie der dornige, widerstandsfähige duindoorn mit seinen spitzen Stacheln. Die zickige Pflanze liefert zehnmal mehr Vitamin C als Zitronen oder Orangen, und ist damit ein wahres Kraftpaket für das Immunsystem und ein Geheimtipp gegen Erkältungen. Besonders lecker ist Sanddorn in Säften oder Marmeladen, wird aber auch als Öl in der Medizin verwendet. Und von den Müllern der Ameländer Mühle De Verwachting für ihren Senf.
Zwischen Oerd und Hôn führt der schmale Pfad an einer Salzwiese vorbei, die regelmäßig und ungehindert vom Wasser überflutet wird. Der grüne Pflanzenteppich geht hier nahtlos ins Wattenmeer über. De Hôn, eine Sandebene mit Primärdünen und sich langsam entwickelnder Vegetation, trägt im Spätsommer ihr schönstes Kleid: einen wogenden violetten Strandfliederteppich. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt lamsoor wie auch sonstiges Gemüse aus dem Meer als Arme-Leute-Essen. Heute sind Strandaster, Strandflieder, Meeresspargel und Co., auch unter dem Einfluss der japanischen Küche, sehr beliebt. Und sie sind nicht nur gesund, sie sind auch lecker! Wir pflücken einige von den langen, schmalen und spitz zulaufenden Blättern, die wirklich ein wenig an die Ohren von Lämmern erinnern. Man kann sie ganz einfach zubereiten wie Spinat oder, was wir tun werden, als Salat anmachen.




Es kreucht und fleucht in den Dünen
Entstanden ist De Hôn, weil die ganze Insel gen Osten wandert. Durch die starke Strömung im Borndiep, auch als Amelander Gat bekannt, wird im Südwesten der Insel Sand abgeschlagen, der sich zum Teil im Osten ablagert. Eine Kolonie von 3300 Silbermöwenpaaren brütet im Osten der Oerderduinen. Ornithologen beobachten hier auch Korn- und Rohrweihe., Eiderenten, Brandgänse, den Großen Brachvogel, Säbelschnäbler, Seeschwalbe, Steinschmätzer und Feldschwirle. Weitere Bewohner des Dünengebietes sind Kaninchen, deren Bestand durch die Myxomatose (Kaninchenpest) bereits mehrfach stark dezimiert wurde. Dann sitzen die erkrankten Tiere mit stark verklebten Augen oft orientierungslos einfach irgendwo am Wegesrand. Da es auf der Insel ansonsten nur wenige bzw. gar keine natürlichen Feinde für die Dünenkaninchen gibt, die völlig angstbefreit auch schon mal gerne auf Campingplätzen oder am Ferienhaus herumhoppeln, halten die Jäger sie im Auge. Was dazu führt, das duinkonijn nicht selten auf den Speisekarten zu finden ist.


›Op stap‹ mit dem Entenfänger
Wir laufen zurück zur Schutzhütte, wo es ordentlich zwitschert und wir schließlich Schwalbennester entdecken. Oh wie schön, Schwalben bringen Glück, pflegte mein Opa zu sagen, auf dessen Bauernhof niemand auch nur auf die Idee gekommen wäre, Schwalbennester von der Tenne zu entfernen. Dann geht schließlich das Glück … Am Bureblinkert biegen wir links in den Jan Sietsepad ein und radeln in südwestlicher Richtung und hinterm Campingplatz Klein Vaarwater vorbei auf den Kooiweg zu. Hier wieder nach links einbiegen und nach gut einem Kilometer ist der Kooiplaats mit der eendenkooi erreicht. Der heute schön restaurierte Entenfang entstand schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts. An guten Tagen wurden damals bis zu 1000 Enten gefangen; heute leben hier verschiedene Entenarten. Bei einem anderthalbstündigen Rundgang verrät der kooiker (Entenfänger) Details dieser besonderen Fangart, die heute aber nicht mehr praktiziert wird.
Nach so vielen Kilometern haben wir Lust auf eine Rast, und zwar im Restaurant ’t Koaikers Huus, das direkt um die Ecke der Entenkoje liegt. Das zauberhafte Ausflugslokal in einem Bauernhaus serviert feine französische Küche, drinnen unter niedriger Decke oder draußen auf der windgeschützten Terrasse. Martine und Rik schätzen die einzigartige Natur Amelands und haben sich daher auch dagegen entschieden, die großzügige Terrasse mit Wärmelampen auszustatten, wie sie in den Niederlanden und auch auf der Insel sehr beliebt sind. Mit Rücksicht auf die Umwelt wird hier auch keine Musik gespielt. Der Küchenchef verwendet fast ausschließlich lokale Produkte wie Wels von den Gebrüdern Metz oder Fleisch vom Landewearhoeve in Ballum und Fisch mit MSC-Siegel. Hier treffen wir auf der Karte auch wieder auf Ente und Dünenkaninchen, entscheiden uns abe für die auf Ameland so beliebte wie leckere Senfsuppe und einen Salat mit Ziegenkäse, Walnüssen und Honig. Echt lekker!


»Wenn eine Schwalbe am Haus brütet, geht das Glück nicht verloren.«
Ein schweres Auskommen
Eigentlich wollen wir für den Rest des Urlaubs hier auf der wunderbaren Terrasse hocken bleiben. Ein Bier, dann vielleicht ein Rharbarbersaft, dann ein Kaffee, dazu ein Kuchen … Aber nein, leider geht das nicht. Über den Kooiweg radeln wir schließlich zurück in Richtung Buren und sind mehr als erstaunt, als ein Schild auf die Welszüchterei der Brüder Martin und Peter Metz aufmerksam macht. Welse auf Ameland? Merkwürdig. Wir erfahren auf dem Hof, dass der Afrikanische Wels auf der Insel sehr beliebt ist. Er ›wandert‹ hier von Becken zu Becken, bis er ausgewachsen ist. Diese werden ständig durchgespült und das Wasser gefiltert. Anschießend wird der meerval in der eigenen Werkstatt filitiert oder in der rokerij in einem spezialen Räucherschrank heiß geräuchert.
Beim Filetieren dürfen wir zuschauen; irre, wie schnell die mit Haube und Schürze versehene Fachfrau mit dem Messer hantiert! Wilhelm und Charly, die schon lange Jahre immer wieder im Imbiss der Welszüchterei einkehren, erzählen uns, dass (nicht nur) die Pommes hier super lecker sind! Das merken wir uns fürs nächste Mal. Wer mag, kann bei Metz auch Forellen angeln. Auf dem hübschen Gelände liegen drei unterschiedlich große Forellenteiche, in denen Angler ihr Glück versuchen können.
Wir wollen nicht, sondern radeln nach Buren und zu einem anderen Hof weiter, in dem heute das Landbouw- en Juttersmuseum Swartwoude untergebracht ist. Auf dem stilecht hergerichteten Hof aus dem 18. Jahrhundert werden Käse und Butter hergestellt und alte Handwerke vorgeführt. Spannend ist der Blick auf die Strandräuberei. Ein Teil des Gesammelten ist ausgestellt. Da die Amelander Bauern schwerlich allein von der Landwirtschaft leben konnten, waren sie gleichzeitg Fischer, Jäger, Seemänner – und eben auch Strandräuber, jutter.



Das Meer schlägt zurück
Richtig nach hinten los gegangen ist die Strandräuberei bei Rixt van het Oerd, an die eine kleine Statue am Driesprong in Buren erinnert. Der auch Ritskemooi genannten juttersvrouw kann auf der Insel niemand entgehen, egal, ob eine Straße oder ein Gericht nach ihr benannt ist. Gemeinsam mit ihrem Sohn Sjoerd lebte die Witwe in einer armseligen Hütte in den wilden Oerder Dünen. Tag für Tag ging sie zum Strand, um angespültes Holz und anderes mehr zu sammeln. Auch nachts wurde sie gesehen. Doch das Meer gab immer weniger her, und eines Tages war auch noch ihr geliebter Sohn fort, er hatte auf einem Schiff angeheuert.
Ihr Hass auf das Meer wuchs, und sie wollte Rache nehmen. Doch was konnte sie schon groß ausrichten? Falsche Seezeichen setzen! In einer stürmischen Nachts erklomm sie mit ihrer Laterne eine hohe Düne und lockte ein in Seenot geratenes Schiff auf den Strand. Am anderen Morgen waren nur noch Wrackteile übrig, und am Strand lagen die Leichen der gekenterten Seemänner. Darunter … Ihr Sohn Sjoerd. Über dieses Unglück verlor Rixt den Verstand, ging in die Dünen und wurde nie mehr gesehen. Nur ihre Schreie hört man machmal, wenn die See besonders rau ist: »Hu-hu-ui … Sjoe-oe-oerd …« Ich habe sie noch nie gehört, aber ihre Geschichte hat mich immer schwer beeindruckt. Und die Legende erzählt viel über das Leben auf der Insel. Gut, dass heute die Sonne scheint, sonst wär’s schon ein bisschen gruselig!

