© Rederij Lampedusa, Anouk Denton
Bootsfahrt der Hoffnung: Bei der Rederij Lampedusa sind die Kapitän:innen Geflüchtete, die auf einer Grachtenrundfahrt in Amsterdam ihre Geschichte erzählen.
Leise zieht das blaue Holzboot durch die Grachten. Ironie des Schicksals: Auf Arabisch steht sein Name ›Hedir‹, Donner oder Gebrüll, an die Außenwand gepinselt. Ironisch ist auch, dass mit dem ehemaligen Flüchtlingsboot heute Tourist:innen durch Amsterdam schippern. Doch die Rederij Lampedusa verfolgt ein engagiertes Ziel: Sie will die bunteste, inklusivste und sympathischste europäische Reederei werden. An Bord erzählen die Kapitän:innen, allesamt Geflüchtete, ihre Geschichte und verknüpfen sie mit der Amsterdams, das immer auch eine Stadt der Migrant:innen war. Eine Bootsfahrt, die Hoffnung gibt.
Hoffen auf ein besseres Leben
Mittwoch, 13. März 2024, kurz nach 10 Uhr an der Dijksgracht in der Nähe des Amsterdamer Hauptbahnhofs. Es ist frisch draußen, acht Grad und Nieselregen. Nicht das beste Wetter für eine Grachtenrundfahrt – aber meine Kollegin Anne und ich machen auch nicht irgendeine Grachtenrundfahrt. Yusuf Adam Suali, unser Kapitän, begrüßt uns am Anleger direkt beim Kunst- und Kulturzentrum Mediamatic. Wir sind heute seine einzigen Gäste, der normale Betrieb beginnt erst in zwei Wochen.
Es wackelt, und sofort ist mir beklommen zumute. Wie lächerlich, bedenkt man, dass Menschen in dieser Nussschale das Mittelmeer überquert haben.
Die ›Hedir‹ gehört zur Flotte der Rederij Lampedusa, einem einmaligen Projekt in Amsterdam. Nur sechs Meter misst der einfache Holzkahn und schaukelt beim Ablegen ordentlich. Sofort ist mir beklommen zumute – wie lächerlich, bedenkt man, dass Menschen in dieser Nussschale das Mittelmeer überquert haben. In Amsterdam ist das mit ein paar Holzbänken ausgestattete Boot für maximal zwölf Personen zugelassen – als die italienische Küstenwache es am 29. August 2014 etwa 18 Seemeilen südwestlich der sizilianischen Stadt Portopalo aufbrachte, waren 78 Passagiere an Bord. Flüchtlinge, die auf ein besseres Leben hofften.

© Rederij Lampedusa, Anouk Denton

© Susanne Völler
Nichts muss, alles ist möglich!
»Was aus ihnen geworden ist, weiß man nicht«, erzählt Yusuf. Er war nicht an Bord, sondern kam 2009 aus dem Bürgerkriegsland Somalia mit falschen Papieren über Kenia im Flieger nach Amsterdam. Yusuf zeigt auf das Marineterrein in der Nähe des Hauptbahnhofs, in dessen Binnenhafen seit Kurzem im Sommer nach Herzenslust gebadet wird, und das bis 2015 militärisches Sperrgebiet war: »Hier werden Geflüchtete versteckt.«
Yusuf selbst hat nach seiner Ankunft in Amsterdam erst einmal im Vondelpark im Süden der Stadt geschlafen. »Ich hatte kein Geld und keine Ahnung, wohin. Niederländisch konnte ich nicht, Englisch auch nicht.« Er schlug sich durch, so gut es ging, bis er eine Arbeit fand. Später hat er sieben Jahre in einem besetzten Haus gewohnt – immer illegal. Eine Aufenthaltsgenehmigung bekam der 41-Jährige erst 2022 – für immerhin fünf Jahre. Wir sind geschockt: 13 Jahre geduldet und immer mit der Angst vor Abschiebung zu leben, muss furchtbar sein. Doch Yusuf lacht nur über unsere Naivität: »Everything here is just step by step.«
13 Jahre geduldet und immer mit der Angst vor der Abschiebung zu leben, muss furchtbar sein. Doch Yusuf lacht nur über unsere Naivität.
Unser Skipper zuckelt nun am Schifffahrtsmusem entlang, vor dem die ›Amsterdam‹ festgetäut liegt, ein Handelsschiff der Vereinigten Ostindischen Kompanie (VOC). Im sog. Goldenen Jahrhundert der Niederlande (17. Jh.), ein umstrittener Begriff, kontrollierte die VOC unter anderem die Gewürzroute von Hinterindien nach Europa und machte mit Sklavenhandel enorm viel Geld. Gegenüber ragt das Wissenschaftsmuseum NEMO aus dem Wasser, der Prestigebau von Stararchitekt Renzo Piano erinnert an ein Schiff. Davor liegen Hausboote vertäut: »Ein Deal zwischen der Stadt und dem Museum«, weiß Yusuf. »Hier wird viel gekungelt«, weiß er, »niets moet, alles mag!« Nichts muss, alles ist möglich! Er grinst, und dieser auch in Amsterdam gern genutzte Spruch kommt dem Somalier in bestem Niederländisch über die Lippen.

Kapitän Yusuf auf seinem Boot,
der Hedir. Hinter ihm ragt der ›Schiffsrumpf‹ des Science Museum NEMO auf, einer der ikonischen Bauten Amsterdams.
Flucht war die einzige Option
Yusuf lacht gerne und viel, dann gleicht sein sonst so ernstes Gesicht einer aufgehenden Sonne. Dabei hat er in seinem Leben mehr Leid erfahren als die meisten Menschen, denen er in seiner neuen Heimat und bei seiner Arbeit auf dem Schiff begegnet. Aufgewachsen ist der Somalier im Süden des Landes, das seit Jahrzehnten von Bürgerkriegen gebeutelt ist. 2009 floh er übers Wasser erst einmal nach Kenia. In seiner Heimat war Yusuf das jüngste von 15 Kindern und bitter arm. Seinen Vater verlor er früh, wie dieser arbeitete er als Fischer. Der damals 26-Jährige geriet ins Visier der islamistischen Rebellenorganisation Al-Shabaab, die ihn rekrutieren wollte. Doch Yusuf weigerte sich. Bei einem Nachbarn hatte er gesehen, was der Bürgerkrieg anrichten kann. Der ehemals lebenslustige Mann kam gebrochen nach Hause zurück und erholte sich nie wieder von den Kriegsgräueln, die er als Soldat miterlebt hatte.
Yusufs Weigerung brachte auch seine Familie in Gefahr. Flucht war die einzige Option, die blieb, auch wenn der junge Mann sein Land nie verlassen wollte. »Mein Bruder hat mir einen gefälschten Pass besorgt und zu mir gesagt: ›Du hast wenigstens eine Zukunft.« Drei Brüder und eine Schwester konnten ebenfalls fliehen, sie leben heute in Kenia und Kanada. Seine anderen Geschwister sind tot. Für uns unvorstellbar, für Yusuf Realität.
Die beste aller Städte
Auf den Grachten ist nicht viel los, das eine oder andere Rundfahrtboot fährt vorbei, private Skipper sind kaum unterwegs. Aber immerhin nieselt es nicht mehr. Wir passieren die Anne Frankstraat im ehemals jüdischen Viertel. »Amsterdam hat viele jüdische Flüchtlinge aus Deutschland aufgenommen«, erzählt Yusuf. Eine von ihnen ist weltberühmt geworden, Anne Frank. »Bis zu meinem vierten Lebensjahr wohnte ich in Frankfurt. Da wir Juden sind, ging mein Vater 1933 nach Holland«, schrieb sie in ihr berühmt gewordenes Tagebuch.
Yusuf zeigt nach links auf den Wertheimpark, »den ältesten Park Amsterdams«, und auf das Auschwitz-Mahnmal, zerbrochene Spiegel, die an die Opfer des Konzentrationslagers Auschwitz erinnern. »Außerdem ist jeder und jedem Getöteten ein Backstein mit Namen gewidmet. Die meisten starben in Auschwitz oder in Sobibor.« Dann weist er uns auf die hebräischen Zeichen an einer Brücke hin, »das bedeutet Mokum Aleph, ›beste aller Städte‹, wie jüdische Geflüchtete Amsterdam genannt haben.«

(© S. Völler)

(© S. Völler).
›Jerusalem des Westens‹ – das war die Stadt für die jüdische Bevölkerung, die hier seit dem 16. Jahrhundert Zuflucht suchte und fand, bis sie im Zweiten Weltkrieg unter der deutschen Besatzung fast völlig ausgelöscht wurde. Dort, wo die Nieuwe Herengracht in die Amstel mündet, unterqueren wir die Walter Süskindbrug, eine malerische Zugbrücke. Wer Süskind war? »Ein deutscher Jude, der in Amsterdam Unterschlupf fand und hier dann selbst gut 1000 jüdische Mitbürger:innen vor der Deportation bewahrte.« Süskind hatte kein Glück, er starb 1945, vermutlich in Auschwitz.
Ganz normale Menschen
Yusuf grinst und zeigt auf eine imposante Brücke über der Amstel: »Hier gibt’s nichts Trauriges zu erzählen. Die Blauwe Brug heißt so, weil sie früher mal blau angestrichen war. That’s it!« Ob wir noch mehr von seiner Geschichte wissen möchten, fragt er dann und wird wieder ernst. Ja, natürlich wollen wir, aber wir sind unsicher, was wir fragen können, ob es Yusuf verletzt oder traurig macht. »Ich bin Aktivist«, berichtet er über sich, »bei ›We are Here‹. Ich will, dass wir sichtbar sind.« Das Migrant:innenkollektiv We are here kämpft für die Rechte von Geflüchteten und möchte zu einer fortschrittlicheren Kultur und Lebensqualität in der Stadt beitragen.
Amsterdam sei zwar eine großartige Stadt, die Menschen unterschiedlichster Herkunft aufnähme, aber die niederländische Asylpolitik mache es Leuten ohne Papiere schwer, die richtigen Dokumente zu erhalten, um hier leben und arbeiten zu können. »Wir sind normale Menschen, die ein normales Leben leben wollen – und es auch verdienen!«
Ich will, dass wir Geflüchtete sichtbar sind. Wir sind normale Menschen, die ein normales Leben leben wollen – und es auch verdienen!

Die Reederei war mein Weg, um zu überleben
Wie aber ist Yusuf nun an die Reederei, an seinen Job gekommen? »Ich habe zufällig Teun Castelein getroffen, einen Künstler, der hier sehr bekannt ist. Ihm habe ich erzählt, dass ich in Somalia Fischer war, und er hatte die beiden Schiffe aus Lampedusa, eigentlich ein Kunstprojekt. Und dann kam uns die Idee, die Reederei zu gründen, eine Stiftung, bei der inzwischen fast 20 Menschen aus den Niederlanden, aus Somalia, Syrien, Eritrea, Ägypten, Kolumbien und der Türkei arbeiten.« So wurde der ehemalige Fischer Kapitän.
»Ohne Papiere in Amsterdam zu leben, ist schwer. Du musst um die grundlegendsten Dinge kämpfen, medizinische Versorgung, eine Bleibe usw. Gleichzeitig hat mich das zu dem gemacht, was ich heute bin. Ohne diese Erfahrung wäre ich nie da, wo ich jetzt bin«, erklärt Yusuf. »Die Reederei war mein Weg, um zu überleben.« Für Yusuf, der Asyl beantragt hatte, war die Arbeit auch ein Rettungsanker, denn sie wurde bei seinem Gesuch positiv bewertet.
Für Yusuf, der Asyl beantragt hatte, war die Arbeit bei der Reederei auch ein Rettungsanker, denn wie wurde bei seinem Gesuch positiv bewertet.
We are all from Adam and Eve
Auf unserer Route kommen wir an zahlreichen Kirchen vorbei. »Es gibt hier so viele Kirchen, weil so viele geflüchtet sind und sich hierher retten konnten.« Aber Yusuf ist auch Realist: »As long as you can pay the tax you can come.« Tröööröööö – Elefantentrompeten kündigt den Zoo ARTIS an. Angeblich haben hier Angestellte während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg Menschen im Löwengehege versteckt, »weil sich keiner getraut hat, da zu suchen!«
Wir drehen bei und fahren zurück zum Liegeplatz. Jetzt reißt sogar der Himmel ein wenig auf und die Sonne kommt raus. Yusuf lächelt und berichtet von seinem größten Wunsch: nach Schweden reisen, um die Mitternachtssonne zu sehen! Uns geht das Herz auf. Immerhin darf er mit seiner Aufenthaltsgenehmigung nun reisen, am Geld hapert’s allerdings noch. Sein nächstes Ziel ist realistischer: eine Schule besuchen. Bevor wir am Steg anlegen, sagt Yusuf noch einmal, wie froh er trotz all der Widrigkeiten ist, in den Niederlanden zu sein. Sein wunderbares Fazit: »We are all migrants. We are all from Adam und Eve.«
Mehr Infos
Rederij Lampedusa, Dijksgracht 6 (bei Mediamatic), wenige Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt, www.rederijlampedusa.nl, von April bis Oktober