Drama am Strand – auch wenn es nur nachgestellt ist: Spektakulär ist das Ausbringen des Pferderettungsbootes auf der kleinen Nordseeinsel Ameland jedes Mal. So mühsam war Seenotrettung einst, heute ist es eine wunderbare Tradition, die die Amelander gerne erhalten möchten. Dabei könnte ihnen der Museumspreis der VriendenLoterij 2024 helfen, denn das Maritiem Centrum Abraham Fock zählt zu den drei Finalisten. Am 14. November fällt die Entscheidung.*
Jeder Handgriff sitzt
Traditionen halten die Amelander in Ehren, Altes wird bewahrt. Drei der vier schnuckeligen Inseldörfer stehen unter Denkmalschutz, so auch Hollum ganz im Westen. Der Ortskern des 1300-Seelen-Dorfs ist geprägt von schön herausgeputzten Kapitäns- und Lotsenhäusern aus dem 17. und 18. Jahrhundert, als Handelsschifffahrt und Walfang boomten.
An normalen Tagen prägt dörfliche Ruhe die ziegelsteingepflasterten Gassen von Hollum. Doch heute ist alles anders: Schon seit dem frühen Morgen liegt Spannung in der Luft, herrscht im Dorf konzentrierte Betriebsamkeit. Vor dem Seefahrtzentrum Abraham Fock versammeln sich die Schaulustigen, warten auf den Start des Rettungsboots gen Strand. Warm eingepackte Helfer laufen zielstrebig hin und her, holen Riemen, Stricke, Kandaren. Zehn nervös tänzelnde Pferde werden eingeschirrt, Zugstränge, Bauchgurte, Brustblätter kontrolliert. Jeder Handgriff sitzt. Dann wird die Abraham Fock angespannt, das alte Rettungsboot der Insel aus dem Jahr 1905, sonst Schaustück des Museums und im Ruhestand.
Lebendige Traditionen bewahren
In der Bewerbung des Museums um den Museumspreis heißt es: »Unser Traum ist es, diese wunderbare Tradition für die nächste Generation aufrechtzuerhalten und sie auch in Zukunft der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wir sind zuversichtlich, dass dies möglich ist, aber dazu sind unter anderem Investitionen in Pferde, Boote, Ausrüstung und die Ausbildung neuer Freiwilliger erforderlich.« Mehr als 50 Freiwillige kümmern sich nicht nur um den reibungslosen und sicheren Ablauf der Vorführungen, sondern auch um die Instandhaltung von Abraham Fock, Bootswagen, Ausrüstung und Museum: Pieter Jan, Gerrit, Theo, Piet, Nico, Jelle und viele vrijwilligers mehr.

Der Museumspreis der VriendenLoterij hat jedes Jahr ein anderes Thema. In diesem Jahr geht es um »Lebendige Traditionen: Immaterielles Erbe und Museen«. Zum immaterielles Erbe zählen Geschichten, Rituale, Handwerke, Bräuche und Praktiken, die von Generation zu Generation weitergegeben werden – lebendige Traditionen, bei deren Bewahren Museen eine wichtige Rolle spielen. So widmet sich das Maritiem Centrum Abraham Fock dem Amelander Rettungswesen und insbesondere dem Pferderettungsboot.
Abstimmen für das Maritiem Centrum Abraham Fock oder eines der anderen beiden Museen – Nederlands Openluchtmuseum bzw. Nederlands Zilvermuseum Schoonhoven – bis Freitag, 8, November 2024, 23.59 Uhr.
Die wahren Heldinnen
Szenenwechsel. Am Strand südwestlich von Hollum machen sich langsam Aufregung und Anspannung breit. Tausende Menschen säumen die Dünen oder stehen auf dem Strand, wo sie ein Spalier bilden. »Gleich wird es dramatisch«, schmunzelt Wilhelm, der mit uns wartet. Der Rentner kennt die Insel wie seine Westentasche und erzöhlt uns, dass er die Pferderettungsaktion sicher schon zehn Mal gesehen hat. Das sei ein Spektakel. „Man wird an die Urgewalt des Meeres erinnert und schaut gleichzeitig dem perfekten Miteinander von Mensch und Tier zu“, begeistert sich Wilhelm, der als Kind im Münsterland auf einem Bauernhof mit Pferden aufgewachsen ist.

Zwei Kilometer sind es vom Dorf zum Strand, und lange, bevor wir Rettungsboot und Pferde sehen, hören wir sie: die donnernden Hufe auf dem Asphalt, das Wiehern der erregten Stuten, das Rattern des schweren Trailers, der über Ketten läuft und das Boot zum Strand bringt. Ein Gänsehautmoment. Zehn kräftige Tiere ziehen die gut neun Tonnen schwere Abraham Fock zum Meer. Hinzu kommen die lauten Rufe der Männer, alles Ehrenamtler, und das Schrillen der Pfeife, mit der der baas die Pferde dirigiert. Der Chef läuft vorneweg und gut 20 Männer hinterher. Sie halten die Tiere in Schach – keine leichte Übung.
Mit acht Pferdestärken ins Meer
Die Schaulustigen am Strand und auf den Dünen sind merklich angespannt. Wir auch. Die Stuten strahlen eine enorme Kraft aus, wie sie da auf das Meer zutraben. Zwei Pferde werden aus-, die anderen umgespannt: Je vier laufen jetzt links bzw. rechts vom Boot. Die Männer tragen Schwimmwesten und wasserfestes Ölzeug, auf den Jacken steht Schwarz auf Gelb: Paardenreddingboot. Einige Pferde keilen aus, schnauben kräftig, steigen hoch. Endlich geht es unter lautem Getöse durch die Brandung in die See – für die Vierbeiner nicht ohne. Doch gehorsam ziehen sie die Abraham Fock durch die Wellen und werden abgekoppelt, sobald Wasser unterm Kiel ist. Nun rollt das Rettungsboot vom Transportwagen und dreht seine Runden. Nach gut einer Viertelstunde ziehen die Pferde das Boot wieder heraus.
Was heute Show ist, war bis 1988 ganz normaler Alltag – und das schon seit 1824. Damals wurde die Niederländische Seenotrettung gegründet, die Koninklijk Nederlands Redding Matsschappij (KNRM). Ameland war eine der ersten Gemeinden, die ein Rettungboot erhielt.
„Egal, ob es eine fiese Januarnacht oder ein lauer Sommertag war, Windstärke 10 oder windstill, eiskalt oder ein Hagelschauer runterkam – Männer und Pferde mussten raus “, erzählt uns Jan de Vries, Crewmitglied der Abraham Fock. Der weißhaarige, wettergegerbte Amelander mit dem Seemannsbart, auch er ein Ehrenamtler, sammelt am Strand mit der Spendenbox für die KNRM. Diese ist bis heute allein spendenfinanziert.
Ein schwarzer Tag für die Insel
„Inzwischen sind wir einzigartig in den Niederlanden“, erklärt Jan, „das einzige Pferderettungsboot des Landes!“ Seit 1824 habe die Amelander Seenotrettung 500, vielleicht sogar 600 Menschenleben gerettet, berichtet er stolz. Heute seien es vor allem Touristen, die die KNRM aus dem Wasser hole, und zwar mit einem der modernsten Speedboote des Landes. Bis 1988 fuhr die Abraham Fock aus, inzwischen das einzige Pferderettungsboot im Land. „Wir sind sehr stolz auf unsere Tradition.“ Daher kämen nicht nur Touristen zum Strand, sondern auch viele Einheimische.

Victoria, Erma, Blacky, Ebita und wie sie alle heißen – warum nur Stuten? Jan erklärt es mir: »Ein Hengst kann in der Nähe von Stuten zuweilen sehr temperamentvoll und schwierig sein. Gelegentlich war auch ein Wallach dabei, das ging natürlich aus.«
Bis auf ein Mal lief alles glatt mit dem Rettungsboot. „Der Tag, an dem es schiefging, war der 14. August 1979.“ An diesem Hochsommertag wollte man einer in Seenot geratenen deutschen Yacht zu Hilfe eilen. Doch die Pferde gerieten in eine Untiefe, konnten nicht schnell genug abgekoppelt werden und wurden 25 Meter tief in den Abgrund gerissen. Alle acht Tiere ertranken. Ein furchtbarer Schlag für die Insel. Dennoch entschloss man sich weiterzumachen. Noch neun weitere Jahre fuhr die Abraham Fock aus, um Menschenleben zu retten.
Die Erinnerung lebt weiter
„An die ertrunkenen Stuten erinnert heute das Paardengraf nicht weit von hier, wo alle acht beerdigt wurden.“ Das sei in den Niederlanden zwar verboten, berichtet Seenotretter Jan, „aber die Bauern, denen die Tiere gehörten, wollten sie bei sich behalten, hier auf der Insel.“
* Den Scheck über 100 000 Euro konnte das Nederlands Openluchtmuseum aus Arnhem mit nach Hause nehmen; es gewann mit 24 448 Stimmen den VriendenLoterij Museumprijs 2024. Die beiden anderen Nominierten, das Maritiem Centrum Abraham Fock und das Nederlands Zilvermuseum, belegten mit 19 536 bzw. 10 874 Stimmen den zweiten und dritten Platz. Auch sie haben Grund, sich zu freuen: Sie erhalten einen Scheck mit der Anzahl der Stimmen in Euro.
Tipps und weitere Infos über Ameland
Die nächten Termine für die Pferderettungsboot-Demonstration gibt es hier. Start am Maritiem Centrum, Ausbringen des Boots am Strand südwestlich von Hollum am Ende des Tjettepads.
Vom Wasser aus zuschauen: auf der MS Zeehond, MS Ameland oder Schuurman Charters.
Maritiem Centrum Abraham Fock: Oranjeweg 18, Hollum, Mo–Sa 13–17 Uhr
Text & Fotos: Susanne Völler