»Zerschlagt das Patriarchat in Indien«, © Chantal Pinzi im Museum Hilversum
Nicht nur die beiden Museen kennt in Deutschland fast niemand, auch die Stadt Hilversum ist bei uns ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Dabei liegt sie nur 35 Kilometer südöstlich von Amsterdam und knapp 120 Kilometer von der deutschen Grenze bei Kleve entfernt – ein Katzensprung also. Die niederländische »Medienstadt Hilversum« kannte ich bereits, die beiden Museen und die traumhafte Umgebung mit viel Wald und weiten Heidelandschaften nicht.
Unterwegs zwischen Heide und Hilversum
Die Natur bringt uns zur Kultur. Am Tag zuvor laufe ich mit einer befreundeten Fotografin Etappe 16 des Nordholland-Pfads in der Region Het Gooi um die Ecke von Hilversum: eine wunderschöne Wanderung – die Heide blüht früh in diesem Jahr und ein Farbenmeer in Purpur empfängt uns! Und sie ist sehr abwechslungsreich. Denn auf Wanderungen, die überwiegend durch flaches Terrain führen, langweile ich mich schnell – und gelangweilt habe ich mich auf dieser Tour keine Minute.
>> Ein bisschen spoilern: Über unseren 16-Kilometer-Marsch gibt es in Kürze auch einen Bericht auf dem Blog. Wer schon jetzt neugierig ist, wird auf der Website des Noord-Hollandpad fündig, dort ist mein Artikel bereits online.

Bootstour voller Bilderbuchmotive
Tag 2 unseres Kurztrips könnte besser nicht beginnen: Wir halten ein Schwätzchen mit Marlies und André von Recreatie aan de Vecht, unseren sympathischen Gastgebern für zwei Nächte. Die beiden vermieten nicht nur Chalets, Pipowagen und ›Hooibergjes‹, Mini-Chalets mit allem Drum und Dran, sie betreiben auch einen Bootsverleih direkt an der Vecht, sind Landwirte … und bei alldem sehr relaxt. Ob wir Lust auf eine Bootstour haben? Und ob! Direkt gegenüber von ihrem jahrhundertealten Bauernhaus liegen die Schaluppen auf der Vecht vertäut. Unser Ausflug zur einstigen Bier- und Geneverstadt Weesp ist kurzweilig: Denn die beiden haben viel zu erzählen und die sonnengetränkte Fahrt auf dem Fluss hat viel Sehnsuchtspotenzial. Vielleicht könnten wir auch eines der Hausboote am Ufer mieten oder kaufen? Doch André nimmt uns jegliche Illusion: »Die kosten Hunderttausende, manche sogar eine Million.«




Bitte einmal nach oben schauen!
Susanne und ich könnten den beiden ewig zuhören, doch Hilversum ist für heute angesagt. Und mit ihm eine unerwartete Entdeckung, das Museum Hilversum im Herzen der Stadt. In dem Neorenaissancegebäude mit Zuckerbäckertürmchen war einst das Rathaus untergebracht. Heute empfängt uns hier das ›Fotografiemuseum van Midden Nederland‹, und zwar spektakulär: An den ehemaligen Ratssaal, einen großzügigen Raum mit klassizistischen Elementen in den Originalfarben, mit warmen Hölzern und schönen Deckengemälden, schließt sich der moderne runde und ganz in Weiß gehaltene Neubau an. Der Clou: Die offenen Galerien mit den Kunstwerken gruppieren sich um den runden Lichthof, der Licht satt spendet, und gewähren spannende Durchblicke. Im Lichthof unbedingt nach oben schauen! Susanne, die Fotografin, ist begeistert. Ich auch, das hatten wir nicht erwartet.


Ein Museum, das (etwas) bewegen will
Mehr noch beeindruckt uns die temporäre Ausstellung Movements, »Bewegung«. Zehn Fotografinnen und Fotografen erzählen die Geschichten hinter ihren Sportbildern – von Menschen, die sich gegen herrschende Normen, gegen Fremdbestimmtheit wehren und die Gesellschaft ändern wollen. So wie in der Fotoserie von Maen Hammad über Skater in Palästina, die sich eine Parallelwelt zur ›besetzten Realität‹ erschaffen, in der Gemeinschaft und Zusammenhalt am wichtigsten sind. Ohrenbetäubend sind die großformatigen Bilder der Iranerin Newsha Tavakolia, die mit ihrer Serie »Listen« Sängerinnen, die vom Regime in Teheran unterdrückt werden, eine Stimme geben möchte. Die Frauen auf den inszenierten Porträts tragen rote Boxhandschuhe – Symbol für ihren Kampf.



Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung
Boxhandschuhe trägt auch Sadaf Rahimi, was mehr als ungewöhnlich für eine Frau in Afghanistan. ist Die amerikanische Dokumentarfotografin Andrea Bruce hat die junge Boxerin auf ihrem achwierigen Weg begleitet, der mit einem Ticket für die Olympiade endete. Bittere Laune des Schicksals: Besorgt um Sadafs Sicherheit, blies der Internationale Boxverband ihre Teilnahme an den Spielen ab. Auf den Fotos trägt die Afghanin statt Niqab oder Burka ein Tuch, das sie am Hinterkopf geknotet hat, und das an korsische Bandanas oder Piratenkopftücher erinnert. Sadaf und ihre ältere Schwester Shabnam flohen 2016 vor dem Taliban-Regime aus Afghanistan und beantragten in Spanien Asyl. In ihren Fotos hat Andrea Bruce eindrücklich Sadafs Kampf um Selbstbestimmung festgehalten.
>> Tipp: Die kleine, feine Ausstellung ist nur noch bis zum 3. November zu sehen und lohnt sich absolut! Weitere Künsterinnen und Künstler sind: Denis Darzacq, Yassine Alaoui Ismaili, Chantal Pinzi, Nandipha Mntambo, Thenjiwe Niki Nkosi, Miguel Rio Branco und Hank Willis Thomas.

Ein Geniestreich in Hilversum
Beeindruckt verlassen wir das Museum, nachdem wir kurz mit den freundlichen Mitarbeitenden gesprochen haben. Schön zu sehen, wie sehr sie das mögen, was sie tun. Wir brauchen jetzt erst einmal einen Kaffee. Wir landen um die Ecke auf der Terrasse des Lennox, und es bleibt nicht beim leckeren Kaffee. Ich bestelle das Miso-Auberginen-Sandwich mit Granatapfelkernen, Gurke und Sesammayonnaise, Susanne den hausgemachten Möhrenkuchen mit Frischkäsetopping und Mango-Passionsfrucht-Coulis. Das hört sich nicht nur gut an und sieht schön aus, beides schmeckt auch super!




Keine zehn Minuten sind es vom ehemaligen zum neuen Rathaus – und doch ist es eine Zeitreise. Der gelbe, asymetrische Backsteinkomplex flasht auf den ersten Blick. Ein hoch aufragender Turm, vertikale und horizontale Vorsprünge, ineinander verschachtelte Gebäudeteile, Fensterleisten als gliedernde Fassadenelemente, Zierbänder – das von Städteplaner W. M. Dudok gebaute Raadhuis ist eine monumentale Skulptur. Dudok, der als Vater des niederländischen Modernismus gilt, entwarf das weltberühmte Ensemble vor knapp 100 Jahren. Spätestens als wir das Innere betreten, ist auch uns klar: Hier haben wir es mit einem echten Gesamtkunstwerk zu tun. Dazu auf dem Blog bald mehr.
>> Noch ein bisschen mehr spoilern … Wer jetzt schon mehr über das in jeder Hinsicht fulminante und nicht nur für Hilversum wegweisende Ensemble wissen möchte, mein Artikel über Dudok und ›sein‹ Rathaus ist hier zu lesen.
Kunst für alle, die Lust darauf haben
Eine coole Entdeckung wartet in Laren auf uns, einer Gemeinde in der waldreichen Region Het Gooi. Wir fahren durch Straßen mit noblen Villen und gepflegten Gärten. Vom einstigen Bauern- und Schafhirtendort ist nichts mehr zu sehen. Heute wohnen hier wohlhabende Amsterdamer und gut verdienende Fernsehleute aus Hilversum. Um die Jahrhundertwende des 19./20. Jahrhunderts war Laren als Künstlerkolonie bekannt. Jozef Izraël, Anton Mauve, Wally Moes, Max Liebermann und viele mehr lebten hier ihre Kreativität aus und zählten zur sog. Larener Schule.
Eben dieser Larener Schule verdankt sich ein wunderbares Fleckchen Erde, das Singer Laren mit Museum, Theater, Café und (kleinem) Skulpturengarten. In der Villa De Wilde Zwanen ist in einem spannenden Ensemble aus Alt und Neu die bedeutende Kunstsammlung des amerikanischen Ehepaars Anna und William Singer untergebracht, darunter zahlreiche Gemälde der Larener Schule des 19. und 20. Jahrhunderts. Nach dem Tod ihres Mannes beschloss Anna, ihr Haus allen zugänglich zu machen, die »die Kunstwerke auch genießen möchten«. 1956 eröffnete das Museum und zu einer der bekanntesten öffentlich zugänglichen Privatsammlung der Niederlande geworden. Neben der ständigen Ausstellung ist es vor allem für seine Wechselausstellungen bekannt.


Verkannt!
Eigentlich sind wir für die Breitner-Ausstellung gekommen. George Hendrik Breitner (1857–1923) kenne ich aus Amsterdam. Ich mag seine dynamischen Schwarz-Weiß-Fotografien des alltäglichen Lebens auf den Straßen der niederländischen Hauptstadt. Doch im Singer Laren sind seine Gemälde ausgestellt. Weder Susanne noch ich kannten ihn bislang als Maler, daher sind wir gespannt. Und werden nicht enttäuscht. Als wir durch die Räume schlendern, stellen wir fest, dass wir zumindest einige seiner Bilder schon kannten, nur nichts von seiner Urheberschaft wussten. Am besten gefällt mir »Mädchen in rotem Kimono«, das laut Schätzungen 400 000 bis 600 000 Euro wert ist. Bei mir langt es nur für ein Notizbuch für 8,95 Euro mit dem Gemälde als Cover im Museumsshop.
Ich hatte meine Lieblingsschuhe an …
Völlig unerwartet stoßen wir in einem langgezogenen Galerieraum mit großer Fensterfront zum Garten auf die Fotoserie »The Day I Became Another Genocide Victim« von Barry Salzman: 100 ›Porträts‹ ruandischer Kriegsopfer. Die Hängung besteht aus drei mal dreiunddreißig Fotos – plus einem Einzelbild als letztem Foto. Der Fotograf und Videokünstler aus Zimbabwe besuchte dafür 2018 die Ausgrabungsstätte eines Massengrabs in Ruanda. Er zeigt auf jedem Foto, was die Opfer am letzten Tag ihres Lebens trugen. Jedem Bild hat er einen Satz gewidmet, um den Betrachtenden zu suggerieren, dass es sich nicht um Stillleben, sondern um Porträts menschlicher Individuen handelt. Um ihnen ihre Identität zurückzugeben. »Ich hatte meine Lieblingsschuhe an, aber einer ist verloren gegangen« oder »Ich trug mein Kleid mit dem Blumenmuster, das hat mir immer gute Laune gemacht« – sind die Fotos untertitelt.



Alle Fotos: © Barry Salzman
Von links nach rechts: »I Was Wearing My Favourite Party Dress«, »I Was Wearing My Favourite Shoes, But One Goto Lost“, »I Was Wearing My Doggy Backpack«. Barry Salzman, I Was Wearing My Favourite Party Dress, 2018; Barry Salzman, I Was Wearing My Favourite Shoes, But One Got Lost, 2018; Barry Salzman, I Was Carrying My Doggy Backpack, 2018, mit Dank an den Künstler
Für die, die niemals identifiziert werden können
Wir sitzen lange schweigend vor den Fotos. 1994 tötete das Militär in knapp 100 Tagen mehr als 800 000 Tutsi. Der Völkermord fand vor den Augen der Weltöffentlichkeit statt, doch ein entschiedenes Eingreifen der internationalen Gemeinschaft blieb aus. Salzman stellt seinem Werk die Worte des Philosophen Georges Didi-Huberman voran: »Um es zu realisieren, müssen wir es uns vorstellen. Wir sollten uns nicht auf das Unvorstellbare berufen.« Salzman macht das Unvorstellbare vorstellbar. Das letzte Foto seiner Serie zeigt kein Kleidungsstück, sondern ›nur‹ eine graue Fläche mit dem Satz »We Were« – »Wir waren«. Seine Anerkennung der unzähligen Kriegsopfer, »die niemals identifiziert werden können«.

»The Day I Became Another Genocide Victim« von Barry Salzman: 100 ›Porträts‹ ruandischer Kriegsopfer.
Wild thing …
Die Stille im Blumen- und Skulpturengarten des Singer Laren tut jetzt gut. Der Entwurd geht auf den international bekannten Landschaftsarchitekten Piet Oudolf zurück, der von sich selbst sagt, er komponiere mit Pflanzen (Welt am Sonntag, 22. Juni 2021). Der Niederländer arbeitet unter anderem mit Disteln, Echinacea, Eryngium, Achillea, Miscanthus, Gräsern (s. auch die Tafel mit den mehr als 100 Pflanzen im Garten). Seine Pflanzungen sehen das ganze Jahr über reinzvoll aus und werden gerne als »wild« tituliert. Sie folgen der Idee der »Dutch Wave«: Diese Bewegung stellt natürliche Pflanzengemeinschaften, die Jahreszeiten und Kunstwerke in den Mittelpunkt. Mir gefallen die purpurfarbenen Sonnenhüte (Echinacea purpurea) besonders – ihre Blüten sind zum Teil handtellergroß.
Annas Schafe
Als ich die »Schafe für Anna« von Guido Geelen sehe, schließe ich sie sofort in mein Herz. Die Geschichte dahinter ist auch sehr süß: Der Künstler ließ sich vom Raub von sieben Skulpturen aus dem Garten im Jahr 2007 inspirieren. Daher sehen seine beiden ›gepanzerten‹ Schafe aus wie Ritter in ihrer Rüstung – sie sollen über den Garten wachen und einen weiteren Diebstahl verhindern. Ob »Der Denker« sich wohler fühlt, seit die Wachschafe ihren Dienst tun?

Der Abguss der berühmten Bronze von Auguste Rodin war eine der sieben Skulpturen, die damals gestohlen wurden. Sie kehrte als einzige zurück in den Garten, und zwar stark lädiert. Ein Bein fehlte und die Diebe hatten versucht, die Plastik zu zersägen – sie hatten es auf die Bronze abgesehen. »Der Denker« konnte restauriert werden und befindet sich unter Aufsicht der Schafe seit 2011 wieder im Singer Laren.
>> Tipp: Die Ausstellung von Barry Salzman in der Van den Brink Galerij ist nur noch bis zum 17. November zu sehen; die Breitner-Ausstellung läuft leider nicht mehr. Weitere Ausstellungen siehe hier. Da das Museum immer gut besucht ist, empfiehlt es sich, früh morgens zu kommen. Das Museum öffnet um 10 Uhr, Kasse, Café-Restaurant, Museumsshop und Skulpturengarten bereits um 9.30 Uhr.
Text & Fotos (wenn nicht anders gekennzeichnet): Susanne Völler
*Breitner schaffte es in die Top 3 beim Museumtijdschrift Tentoonstellingsprijs 2024 (Ausstellungspreis der Museumszeitschrift): Er landete auf dem zweiten Platz.
Herzlichen Dank an die Teams von Visit Gooi en Vecht , Recreatie aan de Vecht, Museum Hilversum, Dudok Architectuur Centrum und Museum Singer Laren, die uns unterstützt haben. Inhalte dieser Veröffentlichung geben ausschließlich meine eigene Meinung wieder.