Trau dich: Durch Wüste und Meer geht es von Vlieland, der kleinsten bewohnten Watteninsel der Niederlande, herüber nach Texel, zur großen Schwester. Unter Bombenbeschuss wird die unendliche Weite der Sahara durchquert, und vorbei an ertrunkenen Seeleuten rattert der umgebaute MAN-Laster zum Meer, wo er seine Fahrgäste ausspuckt. Hier wartet schon ›De Vriendschap‹. Der Kutter tuckert durch die Wellentäler zur Nachbarinsel rüber – Seemannsgarn gibt es gratis dazu. Ahoi!
Der letzte Postillon
Okay, das Intro ist etwas übertrieben, aber nur etwas. Eigentlich stimmt alles. Oder fast … Das mit den Ertrunkenen ist, zugegebenermaßen, etwas weit hergeholt. Doch gehen wir erst noch einmal zurück auf ›Start‹. Vlieland ist die kleinste der fünf Inseln vor der niederländischen Küste im Weltnaturerbe Wattenmeer. Gewaltige Dünenlandschaften, das Vogelparadies der Kroon’s Polders, weite Laub- und Nadelwälder, kilomterlange Küsten und die schier unendliche Weite des Vliehors, die vollmundig so genannte ›Sahara des Nordens‹ – das ist Vlieland. Für viele auch die schönste der waddeneilanden, weil es auf der (fast) autrofreien Insel so ruhig und gemütlich zugeht. Vlieland ist nur 12 km lang – nicht eingerechnet das 8 km lange Vliehors, eine gewaltige, von Puderzuckersand bestäubte Fläche im Westen – und nirgends breiter als 2 km.
Am Posthuys wartet schon Aant Durk van der Veen, der den den Vliehors Expres, einen umgebauten, großrädrigen Lastwagen, durch Dünen und über die gewaltige Sandebene zum Meer lenken wird. Das Posthuys verdankt seinen Namen dem Insel-Postillon, der hier in früheren Zeiten Quartier nahm. Er brachte die Post mit Pferd und Wagen zu einem 8 km entfernten Treffpunkt mit dem texelschen Postboten aufs Vliehors, von dort ging es mit dem Boot weiter nach Texel und schließlich nach Amsterdam. Kein leichter Job für den Vlielander Postboten, der bei Wind und Wetter raus musste. Innerhalb von erstaunlichen zehn bis zwölf Stunden hatte die Post via Den Helder ihr Ziel erreicht. In Amsterdam warteten die reichen Kaufleute schon ungeduldig auf die ›Seebriefe‹ von den vor den Inseln ankernden Schiffen. 1927 war Schluss damit: Postflugzeuge ersetzen den Postweg über Land und Meer. Heute ist das Posthuys ein attraktiver Stopp für Radfahrer und Wanderer, vor allem die große, windgeschützte Terrasse. Und seit nicht allzu langer Zeit kann im ehemaligen Heim des Postillons auch übernachten, wer mag.
Die Natur gewinnt
Die westlich vom Posthuys gelegenen Kroon’s Polders entstanden aus der Not heraus. Warum? Um eine Zweiteilung Vlielands zu verhindern – immer mehr Land ging an dieser ›Sollbruchstelle‹ verloren –, wurde das Land eingepoldert. Heute lässt die staatliche Forstverwaltung Staatsbosbeheer regelmäßig Meerwasser in das zwischen 1900 und 1930 eingedeichte Naturschutzgebiet fließen, um es so attraktiv wie möglich für Vögel zu machen. Hier geben sich vor allem Eiderenten ein Stelldichein, die wichtigsten Brutvögel Vlielands. Sie waren lange Zeit als Lieferanten der Eiderenten-Daune bekannt, die als das beste Füllmaterial von Bettdecken galten. Die Zahl der hier brütenden großen Meerenten wird auf einige Tausend Paar pro Jahr geschätzt, neben mehr als 100 anderen Vogelarten, die hier brüten, darunter Brandgänse, Kormorane, rosafarbene Uferschnepfen … Um Staatsbosbeheer zu zitieren, die übrigens spannende Exkursionen auf der Insel anbieten: »Auf der kleinsten Watteninsel sind die Vögel der Chef.«
»Auf der kleinsten der Watteninseln sind die Vögel der Chef«, so Staatsbosheer, die staatliche Forstverwaltung.

Beschäftigung contra Natur
Für Radfahrer ist am Ende des Polderwegs Schluss. Hier beginnt eine gewaltige Sandebene, das Vliehors. Um seine Dimensionen zu erfassen: Es nimmt flächenmäßig fast die Hälfte Vlielands ein und ist mit gut 20 qkm die größte zusammenhängende Sandfläche Europas. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird die ausgedehnte Ebene als militärisches Übungsgebiet genutzt, insbesondere für Tiefflüge. Warnschilder erinnern daran, und während der Übungen sind rote Flaggen gehisst. Doch Angst brauchen wir scheinbar nicht zu haben: Wouter, der gut 80-jährige Akkordeonspieler, der die Tour begleitet, greift beherzt in die Tasten. Warum das so ist, erfahren wir von Aant: »Wir haben gute Beziehungen zur Luftwaffe!« Unser Chauffeur hat von seinem legendären Vorgänger Maarten Nijman, der den Vliehors Expres fast 35 Jahre lenkte, die guten Kontakte zum Militär übernommen. Maarten konnte seinerzeit eine einzigartige Absprache mit dem Militär treffen: Im Falle militärischer Übungen darf das kettenbetriebene Amphibienfahrzeug nach telefonischer Absprache mit dem Kommandanten losdüsen – die Kampfjets haben zu warten!
Von Freitagnachmittag bis Montagmorgen finden eh keine Übungen statt, dann bleiben die Düsenjäger im Hangar. Die Nutzung durch das Militär ruft immer wieder Naturschützer auf den Plan, die gegen die im Vliehors stattfindenden Flug- und Schießübungen protestieren. Die Vlielander selbst halten sich bei diesem Thema allerdings eher bedeckt: Neben dem Tourismus ist die Arbeit beim und für das Militär die wichtigste Einnahmequelle der Bevölkerung.
Wüstenfeeling
Okay, es ist verhältnismäßig kühler und die Sandebene ist von Wasser umschlossen, aber sonst könnte man sich wirklich in der Wüste wähnen! Eines gibt es hier nämlich im Überfluss: Sand. Alleine über die sandige Eben zu laufen, ist nicht empfehlenswert. Denn im Vliehors wird immer mal wieder scharfe Munition gefunden, es gibt tückischen Treibsand, und auch die schnell hereinbrechende Flut kann Wanderern gefährlich werden.
Die Sonne bricht durch die Wolken und Aant öffnet das Dach des Vliehors Express – wir fahren oben ohne! »Eigentlich ist das hier ein riesiges Cabrio«, lacht er. Wouter unterhält uns weiter mit niederländischen Hits und fast vergessenen Songs, nicht immer leicht zu ertragen, aber er singt mit solcher Inbrunst und lächelt so verschmitzt, dass mir das Herz aufgeht. Ein paar vor sich hinrottende Panzer erinnern an die Teilzeitnutzung des Gebiets durch das Militär. Ob der Sand wohl schon durch die Ritzen ins Fahrzeuginnere eingedrungen ist?
»Eigentlich ist das hier ein riesiges Cabrio«, lacht Aant und öffnet das Dach des Vliehors Expres.
Trau dich!
In der Ferne zeichnet sich eine skurrile Hütte auf Stelzen ab. Und: Seehunde voraus! Die süßen Gesellen faulenzen am Strand und lassen sich die Sonne aufs Fell brennen. Bitte nicht stören! Wir biegen ab und rattern auf das Stelzenhaus zu. Es handelt sich um die mehr als 100 Jahre alte Rettungsstation, in der sich früher Ertrinkende (drenkelingen) in Sicherheit bringen konnten. Sie ist eines der Wahrzeichen Vlielands und findet sich auf vielen Postkarten und Buchcovern wieder. Das Reddinghuisje ist von einem Zaun aus Treibholz und einer Fülle von Fundstücken umgeben, die am Strand angeschwemmt worden sind. Rettungsringe, Bojen, Schwimmer für Fischernetze … Heute beherbergt die Rettungsstation ein Mini-Museum, das sich der jutterij verschrieben hat. Jutter sind Strandräuber oder auch Strandgutsammmler. ›Gejuttet‹ hat auf den Inseln früher jeder – aus Armut. »Was auch angespült wurde, es konnte gebraucht werden«, erzählt Wouter. »Segelmasten als Dachkonstruktion, Bojen als Lampen enzovoort enzovoort.« Die bislang skurrilsten Funde hier sind immer wieder Gebisse. »Klar, die Leute spucken die aus, wenn sie seekrank werden … «
Das Reddinghuisje hat noch eine zweite Funktion, es ist eines der beliebtesten Traulokale des Landes. Ab 1997 fungierte Maarten hier als Trauzeuge, und auch diesen Job hat Aant von ihm geerbt. Er macht ihn gerne. Ebenfalls auf den Vorbesitzer gehen die Gedichte zurück, die der Lastwagen mit seinen Rädern in den Sand ›schreibt‹. Aant und seine Leute schneiden die Buchstaben in die extra dicken, glatten Reifen. Während der gesamten Tour werden auf diese Weise vier Gedichte in den Sand ›gestempelt‹. Eine poetische Idee!
Tierische Stars
Auf zur ›Vriendschap‹. Der Kutter hat weiter südwestlich, am gut 150 m langen Landungssteg, angelegt. Über den Steg geht es an Bord, wo Skipper und Steward die Ankommenden begrüßen. Seit 1983 tuckert die ›Vriendschap‹, erst ein abgetakelter Fischkutter, seit Kurzem ein modernes Schiff, in der Saison von Vlieland zu den Nachbarn auf Texel rüber – bis heute die einzige regelmäßige Fährverbindung zwischen den Watteninseln. Zwischen diesen Überfahrten läuft das Boot zu den Seehundbänken im Eierlandse Gat aus. Doch auch wir sehen die possierlichen Tiere: Vor uns liegt eine der größten Seehundkolonien Vlielands. »Oft kann man den Tieren beim Jagen zusehen«, erzählt Dirk Albert Blom, unser Skipper. »Aber heute sind sie einfach nur faul und sonnen sich«, schmunzelt er. Drei bis fünf Kilo Fisch müssen Seehunde pro Tag fangen, wenn sie satt werden wollen. Und noch etwas Spannendes lernen wir: Die gemütlichen Gesellen können gut und gerne ein halbstündiges Nickerchen unter Wasser machen und gleiten mit bis zu 30 km/h elegant dahin.

Texel grüßt!
An Bord wird Kaffee ausgegeben und Seemannsgarn gesponnen. Landeier treffen auf Seebären – bloß nicht alles glauben, was erzählt wird! Die Stimmung an Bord ist super, und seekrank wird auch niemand, das Auf und Ab der Wellen hält sich in Grenzen. Als das Schiff nach etwa 40 Minuten den Landungssteg auf Texel erreicht, wären viele vermutlich gerne noch geblieben. Die ›Vriendschap‹ legt nicht weit vom knallroten Leuchtturm der Insel an und praktischwerweise direkt vor einem Strandpavillon. Kaap Noord gilt vielen als »der wohl schönste Strandpavillon Texels«. Hier jetzt nur nicht hängen bleiben …
Mehr Infos
De Vliehors Expres von Ende April bis Ende Oktober

